Den Früchten aus Werner Zemps Laufbahn begegnet man oft unbewusst im öffentlichen Raum, sei es in Form von Lichtschaltern, Bedienelementen von Aufzügen, Parkbänken, beleuchteten Briefkästen oder des legendären »Abfall-Hais«. Vor zwölf Jahren schuf der Grandseigneur des Schweizer Industriedesigns für JURA die markante Z-Linie mit der charakteristisch geschwungenen Front. Aus dem Berufsleben hat sich Zemp zwischenzeitlich zurückgezogen, untätig ist er aber dennoch keinesfalls geworden – im Gegenteil. Agil wie eh und je widmet er sich heute ganz der Kunst. Seine pure Lust am Experimentieren, daran, möglichst viel auszuprobieren, ist ungebrochen: »Jetzt kann ich meine Visionen vollkommen frei, kompromisslos und ohne Rücksicht auf Vorgaben oder Wünsche von außen realisieren.«

Amden, ein idyllisches Sechzehnhundert-Seelen-Dorf steil am Hang. Kurvig schlängelt sich eine Straße an akkurat gepflegten Gebäuden und Gärten vorbei und überwindet beim Verbinden des tiefsten mit dem höchstgelegenen Punkt der Gemeinde stolze 1 680 Höhenmeter. Irgendwo zweigt ein Weg links ab und führt zum Haus von Werner und Margarita Zemp. Streng geometrische, dennoch organisch anmutende Skulpturen im Garten lassen darauf schließen, dass hier Menschen mit einem ausgeprägten Sinn für Ästhetik leben. Die Räume im Haus sind von Licht durchflutet. Das nüchterne Weiß der Wände wird gebrochen von warmem Holz an Decke und Boden. Die Wände zieren farbige Aquarelle und Reliefs, die durch den von vorbeiziehenden Wolken wandelnden Lichteinfall zu atmen scheinen. Die imposante Landschaft mit dem atemberaubenden Postkartenpanorama, den Blick auf Walensee und Glarner Alpen, erkoren die beiden zur Kulisse für ihren Ruhestand … wobei ›Ruhe‹ definitiv der falsche Begriff ist, denn nach wie vor strotzt Werner Zemp vor Ideen, lodert in ihm das Feuer der Gestaltungsleidenschaft.

Vom seriösen Schreiner zum kreativen Formengestalter

Dass aus ihm dereinst einer der führenden Schweizer Designer werden würde, hatte sich zu Beginn seiner beruflichen Laufbahn zunächst nicht abgezeichnet. »Bei mir im Ort gab es nur bedingt Lehrstellen. Metzger, Coiffeur oder Bäcker zu werden, konnte ich mir nicht vorstellen. Deshalb lernte ich Schreiner.« Mit diesem seriösen Beruf im Gepäck absolvierte der junge Werner die Kunstgewerbeschule in Luzern. Dort stieß er auf eine Ausschreibung der namhaften Ulmer Hochschule für Gestaltung. Sie klang in seinen Ohren als Ruf, dem er nur zu gerne Folge leistete. »Die Ulmer Schule verstand sich als Nachfolge der Bauhaus-Bewegung. Doch anders als beim Bauhaus, wo Handwerk und Kunst im Zentrum standen, betrachtete Ulm Design als wissenschaftlichen Prozess des schrittweisen Entwickelns und baute Feedbackrunden in den Entstehungsprozess ein.« Die Berufsbezeichnung »Designer« hatte sich damals noch längst nicht etabliert. Zemp: »Man sprach vom ›Formengestalter‹, und ich wurde häufig gefragt, ob es denn so etwas Seltsames überhaupt brauche. Heute besitzt Design einen komplett anderen Stellenwert; heute wird kein Produkt mehr hergestellt, ohne auf die Gestaltung zu achten.« Es folgten Lehr- und Wanderjahre mit Stationen im In- und Ausland, bevor er den Schritt in die Selbstständigkeit wagte.

Ein Gestalterleben lang begleitet den Präzisionsfetischisten eine ganz bestimmte Form: die Sinuskurve. »Ein Lehrer gab mir einst die Aufgabe, die Dolde einer Sonnenblume genau zu analysieren und neu auszulegen. Seit damals üben die Sinuskurve und die sogenannten krümmungssprungfreien Übergänge von Radien in Flächen eine geradezu sinnliche Anziehungskraft auf mich aus.« Die Natur als Lehrmeister? »Als Inspirationsquelle«, präzisiert Zemp und dreht dazu den Bleistift, seinen ständigen Begleiter, langsam zwischen Daumen und Zeigefinger. »Es war nie meine Intension, die Natur zu kopieren, jedoch stets, exakt hinzusehen, sie zu studieren, von ihr zu lernen und als Konklusion in meinen Gestaltungen neu zu interpretieren.« Zemps Formen scheinen streng geometrisch und verfügen trotz ihrer Reduktion aufs Wesentliche über eine emotionale Ausstrahlung. Ihre durchdachte Komplexität wird einem erst bei genauem Betrachten bewusst. »Ich setze mich stark mit der Wahrnehmung auseinander. Der Winkel, in dem Licht auf einen Gegenstand trifft, kann dessen Form komplett verändern.« Was er damit meint, veranschaulicht er an einem seiner Objekte, indem er es langsam vor der raumhohen Fensterfront, durch welche gleißende Sonnenstrahlen ins Atelier strömen, hin und her bewegt. »Ich liebe dieses Wechselspiel von Licht und Schatten, weil es meinen Objekten Leben einhaucht.«

Ist man verliebt, kommt es gut

Wie man eine Form auf ein Minimum reduziert und ihr dennoch eine Aura, eine Persönlichkeit verleiht, ist für Zemp eine essenzielle Frage. Überdesignte Formen erachtet er als verwirrend und teils voller kontroverser Botschaften. »Zu viele, unruhige Linien und Schnörkel lenken ab. Das Auge wird nicht geführt, ist verloren, weiß nicht, worauf es sich konzentrieren soll. Deshalb verzichte ich konsequent auf effekthascherischen, kurzlebigen Firlefanz.« Gutes Design zeichnet sich dadurch aus, dass es auch nach Jahren noch frisch und unverbraucht daherkommt. »Hier ist unsere Gilde gefordert. Das macht unseren Beruf so spannend, denn jede Herausforderung ist neu. Das hält einen wach und agil.« Zemps Erfolgsrezept: »Die Arbeit soll Freude machen. Wenn man in ein Projekt verliebt ist, kommt es gut.«

Design stellt für Werner Zemp nur einen Aspekt dar, der zum Erfolg eines Produkts beiträgt. »Um im Markt reüssieren zu können, muss ein Produkt immer eine Legitimation haben; es muss relevant sein. Der Hülle kommt die Aufgabe zu, die inneren Werte, die Qualität in eine allgemein verständliche Formensprache zu übersetzen und nach außen zu transportieren.« Genauso wichtig wie die Form sei die Anfassqualität, sie fördere Verständnis und Dialog. »Erst über die Haptik ›begreifen‹ wir einen Gegenstand richtig, im wahrsten Sinne des Wortes.« Aktuell setzt er sich intensiv mit dieser Thematik auseinander, denn er ist dabei, einen vierzig Meter langen Korridor in einem öffentlichen Gebäude künstlerisch zu gestalten. »Bei diesem Projekt geht es um eine Serie von Reliefbildern, um die Magie von Licht und Schatten im Wechselspiel harter Konturen und sanfter Flächen.« Ganz nach dem Motto ›bitte berühren‹ findet er: »Meine Objekte sollen angefasst, ertastet und ganzheitlich erfahren werden.« 

Intelligente Bedienung dank messerscharfer Beschreibung 

Die Nutzen eines Produkts müssen sich für Werner Zemp einerseits in seinem Äußeren, andererseits in der Bedienung widerspiegeln. Für ihn gilt mehr denn je die Maxime ›direkt zum Ziel‹. »Eine einfache, selbsterklärende Bedienung hat beinahe den gleichen Stellenwert wie die eigentliche Funktion eines Produktes. Denn weshalb sollte ich mir etwas kaufen, wenn es so kompliziert zu bedienen ist, dass ich es kaum nutze?« Das scheint so logisch klar wie Zemps Designsprache, ist jedoch genauso anspruchsvoll in der Realisation. »Intelligenter Bedienung liegen klar strukturierte Gedanken zugrunde. Nur wenn ich die Funktion messerscharf beschreiben und auf den Punkt bringen kann, bin ich auch in der Lage, sie in einem Mensch-Maschine-Interface abzubilden.« Zemp spricht von eindeutigen, unmissverständlichen Bedienelementen, von intuitiver Bedienung. Im gleichen Atemzug warnt er vor den Gefahren zu großer Technologieverliebtheit: »Eine Übertechnisierung kann alle ›Nicht-Digital-Natives‹ ausschließen und zu einem Generationenproblem führen. Grundfunktionen müssen in jedem Fall schnell, einfach und für jedermann verständlich abgerufen werden können.« Und hier sei, lobt »der Vater der Z-Linie«, JURA absolut auf dem richtigen Weg.

Ein Gespräch mit Werner Zemp ist eine lustvolle Erfahrung. Es macht Freude, seiner bildhaft farbigen Sprache zu lauschen, wenn er Beispiele und Anekdoten aus seinem reichen Erfahrungsschatz teilt. Seine Begeisterung ist ansteckend, das »feu sacré« springt augenblicklich auf einen über und man spürt sofort, was den leidenschaftlichen Designer mit seinen Objekten verbindet: Beide sind fantastisch in Form.



Fotos: Remo Buess